Wie Verschwörungstheorien das iranische Weltbild prägen

Ein persönlicher Rückblick auf das Runde Zimmer am 18.August

Stecken die Engländer hinter der iranischen Revolution? Ist die Grüne Bewegung eine
Erfindung des Westens? Hat die CIA die Anschläge vom 11. September verübt? Ist der
Einfall der Araber im 7. Jahrhundert schuld an der iranischen Rückständigkeit?

Als ich mich für das Thema „Verschwörungstheorien“ auf facebook entscheide, muss
ich an eine Szene aus meiner Kindheit zurückdenken. Ich hatte zum ersten Mal das
Wort „Bahai“ aufgeschnappt, eine religiöse Minderheit im Iran, und fragte meine Eltern,
wer oder was das sei. Sie antworteten nur vage, und fügten hinzu: „Man glaubt auch,
dass die Bahais englische Spione seien, und dass der Glaube gegründet worden sei, um
den Iran zu spalten.”

Als ich als Teenagerin in einer deutschen Kleinstadt in der Bibliothek
immer wieder Ankündigungen von Bahai-Treffen sah und darüber berichtete, regten sich
meine Eltern auf. Das sei ein Beleg für die Sektenartigkeit der Bahais, sagten sie. Für mich
waren die Bahais nun definitiv seltsame Menschen geworden.
Heute, mehr als zwanzig Jahre später, schäme ich mich für das, was ich eine Zeit lang
unterschwellig mit den Bahais assoziierte. Meine Eltern erzählten mir vor kurzem, dass sie
damals wohl einfach nur mit Neid auf die starke zivile Organisation der Bahai-Gemeinde
in Deutschland geschaut hätten. Etwas, das „normalen Iranern“ Jahrzehnte lang nicht
gelingen konnte im Exil. Heute haben meine Eltern Bahai-Verschwörungstheorien
abgestreift wie eine alte Haut…und ich wundere mich, wie tief überhaupt Eltern ihre
eigene Weltsicht in ihre Kinder verpflanzen können. Wie war es wohl für meine Eltern in
ihrer Kindheit? Was erzählten ihnen ihre eigenen Eltern über jüdische, zarathustrische und
Bahai-Mitschüler? Durften sie mit ihnen spielen?

Wie Legenden gebildet werden

In Köln ist es sagenhafte 37 Grad heiß. Findet das Runde Zimmer statt? Plötzlich wird
der Raum voll. Psychotherapeut Abbas Abtahi erklärt zunächst, dass Menschen, die keine
volle Kontrolle über ihre Lebenssituation hätten, anfälliger für Verschwörungstheorien
seien. Verlieren wir die Kontrolle, nehmen wir auch einfache Sinnzusammenhänge
dankbar als Erklärung an, sagt er. Gerade wenn bestimmte Ereignisse nur schwer in
unser Weltbild eingebettet werden könnten: „Verschwörungstheorien helfen, die Kluft
zwischen Wunsch und Realität zu überbrücken. Die Realität zu überstehen. Sie erzeugen
ein Wir-Gefühl. Sie sind praktisch, wenn man Eigenverantwortung ablehnt und sich als
Opfer begreift. Sie verhindern Reflexion und Selbsterforschung. Verschwörungstheoretiker
suchen keinen Dialog, argumentieren emotionaler, sehen die Welt in Schwarz-Weiß-
Dualitäten, reduzieren mit einfachen Mitteln die Komplexität der Welt, bekämpfen so
auch Traumata. Sie können immense Gewaltbereitschaft, regelrechte Hetze auslösen.
Verschwörungstheorien können natürlich auch reale Substanz enthalten.“

Die Teilnehmer erzählen, in welchem Kontext sie Erfahrungen mit Verschwörungstheorien
gemacht haben. Am Anfang, wird erklärt, stehe eine Krise, eine Konflikt, etwas
Unerklärbares, und das Misstrauen zwischen zwei gesellschaftlichen Gruppen. Dieses
Misstrauen steigere sich zu einem Verschwörungsglauben, der davon ausgeht, dass sich
eine Gruppe gegen eine andere Gruppe verschworen hat, um ihr zu schaden. Der Gegner
sei angeblich böse und mächtig, und begehe überall verdeckte Verbrechen. Diktatoren, autokratische Demokratien und sich selbst als geheime, aufklärerische Informations-Pioniere sehende Menschen bedienten sich gerne Verschwörungstheorien, lernen wir.
Für einige Diskutanten hat der Begriff einen zu negativen Beigeschmack. Schließlich
sei an solchen Theorien immer etwas Seriöses dran. Manchmal verkündeten
Verschwörungstheoretiker einfach unbequeme, aber revolutionäre Wahrheiten. Wenn man
Verschwörungstheorien bekämpfe, sei man gegen Meinungsfreiheit. Stimmt, sagen
andere – aber „wozu muss man sich´geheimbündlerisch´ geben, wenn die Wahrheit
einfach recherchiert werden kann? Wenn klar ist, dass Weltpolitik der mächtigeren Staaten
einfach nur auf kurzsichtigem Eigennutz beruht? Wenn klar ist, dass noch so mächtige
Medien einfach nur ignorant und noch so mächtige Staaten einfach nicht intelligent sind?
Und wenn Zusammenhänge durch mächtige Organisationen der Zivilgesellschaft enthüllt
werden können?“
Aber… ist die Zivilgesellschaft denn mächtig genug, um stets nach der Wahrheit zu
suchen? Hier überwiegt Skepsis. Manche erinnern hier an das Schicksal des Wiki-Leaks-
Gründers Assange. Andere erwähnen, dass westliche Medien durchaus viele internationale
Skandale enthüllt hätten, die vor unserer Nase passieren – dass aber der Aufschrei
ausgeblieben sei.

Märchenerzähler und Kriegstreiber

Das iranische Weltbild ist voller Verschwörungstheorien. Wir versuchen, die Ursachen
dafür zu finden. Ein Grund seien unter anderem traumatische historische Erfahrungen –
ein Erdöl-Land, der CIA-Putsch von 1953, die Quasi-Kolonisierung, der Ausverkauf der
nationalen Interessen durch korrupte Machthaber. Ein Teilnehmer meint, individualisierte
Gesellschaften seien weniger manipulierbar, könnten aber gerade durch das gesichtslose
Internet rückfällig werden. Eine andere erinnert an den Iran von 1979, als vielen
Menschen die politischen Sinnzusammenhänge entglitten, und ein Gefühl von Ohnmacht
und Einsamkeit entstand. Ein anderer verurteilt den Mangel an analytischem Denken in
Iran. Der Westen sei eben komplexer als der Iran, und Iraner seien nicht in der Lage,
diese Komplexität zu verstehen.
Wir arbeiten heraus, was den Verschwörungsglauben im Iran genährt hat: der Mangel
an philosophischer Tradition, ja sogar der frühe Ein-Gott-Glaube, ebenso der populäre
Hang zum Aberglauben, die Vorherrschaft der Mystik im Weltbild, eine stets polarisierte
Gesellschaft, und natürlich ein Bildungswesen, das nicht Kritikfähigkeit, sondern nur
Auswendig-Pauken fördere.

Auch wenn die Grundlagen einiger Verschwörungstheorien Tatsachen sind – wie können
wir Herr über unser Schicksal werden, uns innerlich befreien von „Bist du nicht für mich
dann bist du gegen mich!“? Dialog und Kommunikation sind wichtig. Ein Denken in
Grautönen. Abschied von absolutistischen Überzeugungen. Bildung. Und immer wieder:
Selbsterforschung und Selbsterkenntnis.
Das Runde Zimmer wäre nicht rund ohne einige persische Verse über die Wahrheit,
nach der wir alle suchen. Eine Teilnehmerin zitiert Abu Ali Sina, in dessen „Herz zwar
tausende Sonnen scheinen, das aber nicht einmal ein Atom begreifen könne“. Der alte
Hafez schreibt in seinem Diwan, dass der Krieg von zweiundsiebzig Völkern allen nur ein
Vorwand war: „Weil sie die Wahrheit nicht erkennen konnten, ergingen sie sich in Märchen
und Legenden.“ Und zogen in die Schlacht….