1. Was ist überhaupt Kultur?
  2. Gibt es verschiedene Kulturen? (z.B. gut, schlecht, fortschrittlich, rückständig, religiös, unreligiös)
  3. Gibt es eine Weltkultur?
  4. Wie entstehen Verbindungen zwischen Kulturen?
  5. Wie verändern sich Kulturen?
  6. Was ist kulturelle Rückständigkeit und gibt es sie überhaupt?
  7. Wie ist die kulturelle Situation in Iran heute?
  8. Wie ist sie in der iranischen Community in Ausland?
  9. Was verstehen wir unter einer Kultur der Hoffnung? Gibt es sie überhaupt?

 

Mit diesen Fragen eröffneten wir eine weitere Sitzung unserer Gesprächsrunde: „Otaghe-Gerd/ Das Runde Zimmer“. Hier lesen Sie den Bericht einer  Teilnehmerin:

“Ich bin Mitte Dreissig, in Deutschland aufgewachsen, und habe zum ersten Mal das Runde Zimmer besucht. Zuerst dachte ich: „Es sind nur neun Leute gekommen. Ist ja auch Sommer gerade in Deutschland, da hat man andere Dinge im Kopf. Die meisten sind älter als ich und können sich auch viel besser ausdrücken auf Persisch als ich, und das Thema ist mir viel zu allgemein, und eigentlich weiss ich auch gar nichts dazu.“

Von wegen! Denn ich war so am Zuhören und Argumente finden und Thesen formulieren, dass ich gar nicht mitbekam, wie die zwei Stunden Diskussion vergingen. Ich hatte – zu meiner eigenen Überraschung – urplötzlich eine richtige Lust bekommen am Debattieren und Fragen aufwerfen, und es machte mir Spaß, andere Meinungen zu hören und einen Austausch zu erleben – einen Austausch mit festen Spielregeln, für den man Geduld und Disziplin braucht.

Zuerst zerbrachen wir uns die Köpfe, um zu definieren, was Kultur eigentlich ist. Die Stichworte:

Es gibt eine vorislamische und eine islamische Kultur im Iran, die beiden Traditionen sind miteinander vermischt.

Es gibt nach wie vor einen Dualismus (oder gar eine Schizophrenie?) in der iranischen Kultur, der die Welt in Gut und Böse, Himmlisch und Teuflisch aufteilt. Dieser Dualismus prägt nachhaltig, muss aber in Frage gestellt werden.

Literatur, Legenden und Mythen, Kunst überhaupt, Architektur, Religion, Wissenschaft, Philosophie, Geschlechterbeziehungen, Sitten und Gebräuche, Weltbilder, Mentalität (sie alle auch in Abhängigkeit von geographischen, klimatischen, ökonomischen und ethnischen Faktoren) gehören zur KULTUR.

Einer formulierte, dass die persische Sprache der Kern der Kultur sei, in ihr sei der Widerstand gegen das arabische Element am deutlichsten zu sehen. Ein anderer meinte, wir müssten viel mehr als bisher berücksichtigen, dass es verschiedene Sprachen im Iran gibt, und somit verschiedene Modelle, die Wirklichkeit zu veranschaulichen.

Schnell kristallisierten sich weiterführende Fragen heraus: Was für eine iranische Kultur wollen wir eigentlich hier im „Ausland“ konservieren und weitergeben? Hat man überhaupt eine Wahl? Und umgekehrt: Nehmen die Inlands-Iraner uns hier eigentlich ernst? Wollen sie denn überhaupt von uns hier lernen? Und was heisst schon “lernen von uns”?

Eine Teilnehmerin meinte: „Wenn man in Deutschland lebt und arbeitet, kann man die iranische Art, mit der Zeit umzugehen, nicht aufrecht halten. Da wird man schnell seinen Job los. Aber ich will schon die iranische Gastfreundschaft für mich und meine Kinder bewahren.“ Und sie war der Meinung, dass wir im Ausland durchaus der iranischen Gesellschaft dort mitgeben können: „…zum einen die Kultur der Gewaltlosigkeit, zum anderen das deutsche Umweltbewusstsein, das ja auch im Iran anwächst – auch aufgrund des kulturellen Austauschs mit der Diaspora. Diesen Austausch vereinfachen gerade die neuen Kommunikationsmittel. Und ja, die Iraner im Iran nähmen die Auslandsiraner durchaus wahr, es dominiert die Sicht, dass Iraner es im Westen zu Erfolg gebracht hätten, und die Möglichkeiten nutzten, die sich ihnen hier bieten.“

„Aber es gibt doch einige Iraner hier die immer noch in Kategorien der siebziger Jahre denken, ihr Weltbild von damals in Stein gemeißelt haben (einige nennen sie die „Fossil-Iraner“). Sie gehören weder der iranischen Kultur von heute zu noch der deutschen. Warum stecken sie in diesem Niemandsland fest? Welche psychische Folgen hat das?“

Wir diskutierten kurz über Geschlechterbeziehungen und Eltern-Kind- Beziehungen. Eine sagte: „Es gibt iranische Familien hier, die viele der Werte dieser Gesellschaft angenommen haben und nicht nur danach leben, sondern sie auch weitergeben. Gleichzeitig geben sie ihren Kindern vermeintliche kulturelle Werte mit, die in der heutigen iranischen Gesellschaft in Frage gestellt werden, wo mitunter auch eine sexuelle Revolution stattgefunden hat, und geschlechtliche Bedürfnisse weit offener ausgedrückt werden als in den siebziger Jahren. Dass Frauen das Recht der Selbstbestimmung haben, dass sie das Recht haben frei ihren Lebensweg zu wählen, wird bei diesen Eltern verdrängt, auch wenn Sie vom Kopf her allem zustimmen würden.“

Wir stellten fest, dass es noch nie soviel kulturelle Vermischung gegeben hat wie jetzt. Allein die Stadt Köln sei dafür ein perfektes Beispiel. Zwei Wege, mit der kulturellen Vermischung umzugehen, wurden aufgezeigt: Zum einen müssten wir die Tatsache akzeptieren, dass es nicht nur eine iranische Identität gibt, sondern viele iranische Identitäten. Zum anderen sei der Gebrauch der Vernunft wichtig, wenn es darum ginge, Kultur auszuüben – die Vernunft sei eine globale Sprache, ein globaler Wert, die Vernunft sortiere „Abfälle“ wie zum Beispiel ein obsoletes Frauenbild automatisch aus. Zum dritten wirke die Globalisierung auch im Iran, auch dort würden die Rechte des Individuums immer weiter artikuliert. Durch das globale Medium Internet seien wir viel weiter miteinander verbunden als zum Beispiel in den 80er Jahren.

„Dass Frauen das Recht der Selbstbestimmung haben, dass sie das Recht haben frei ihren Lebensweg zu wählen, wird bei diesen Eltern verdrängt, auch wenn Sie vom Kopf her allem zustimmen würden.“

Aber wie können wir diese Globalisierung für uns nützen? Warum haben Iraner in der Diaspora – im Vergleich zu anderen Minderheiten – keine Strukturen, keine Organe, keine Organisation? Warum reüssieren sie als Individuen, aber kaum als Gemeinschaft? Und welche Schicht im Iran können sie überhaupt ansprechen? Die Mittelschicht, aber wohl kaum die traditionell-religiöse Schicht – oder?

Einer brachte als Beispiel für feste Strukturen die 60er und 70er Jahre in die Diskussion: die iranische Studentenkonföderation. Eine andere meinte, dass diese Konföderation nur durch eine zusammenschweißende Utopie einer Generation zusammengehalten wurde, und dass es eben vierzig Jahre später keine Utopien und viele verschiedene Generationen gäbe. Ein Teilnehmer betonte, dass die Grüne Bewegung im Iran auch im Ausland dazu geführt habe, dass Iraner einander näherkommen und sich kennenlernen, anstatt wie bisher voneinander Abstand zu nehmen. Ein anderer meinte, dass „wir hier und die dort“ sich gerade über Strukturen wie den DIWAN näherkommen könnten. Ein Teilnehmer sah den Grund für die Strukturlosigkeit in der Tatsache, dass jeder Iraner sich – bedingt durch die schiitische Tradition – als „Quelle der Nachahmung“ sehe, so wie die klassischen schiitischen Geistlichen.

Was mir in der Debatte hängen blieb, waren vor allem folgende Worte: „Kultur ist das, was uns zu Menschen macht“, und „Das Wichtigste ist eine Kultur der Hoffnung – in einer Zeit, die von kultureller Hoffnungslosigkeit im Iran geprägt ist“. Der Abend verging wie im Flug, aber die Fragen arbeiten in mir weiter. Diese würde ich zu gerne in weiteren Sitzungen diskutieren!”